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Wie Sektorkopplung unsere Energiesysteme flexibler machen kann und die Mobilitätswende vorantreibt
Im Interview mit Ramboll-Expert:innen erfahren wir, wie der steigende Bedarf an erneuerbaren Energien, der durch die Mobilitätswende entsteht, und die Verfügbarkeit von grünem Strom ausbalanciert werden können. Im Interview erörtern Christin Herber, Head of Energy Systems und Niels Tietgen, Senior Consultant Smart Mobility unter Anderem die Potenziale von Wasserstoff und die Rolle von Sektorkopplung für ein flexibles Energiesystem sowie die Notwendigkeit eines effizienten Diskurs mit allen Stakeholdern.
In Zeiten der Energie- und Mobilitätswende verschieben sich sowohl die Verfügbarkeiten als auch die Bedarfe an erneuerbaren Energien. Wie kann sichergestellt werden, dass dem Verkehrssektor auch zu Spitzenzeiten genug Energie zur Verfügung steht?
Christin Herber: "Die zeitliche Verschiebung von Stromerzeugung und Stromverbrauch ist in der Tat eine Herausforderung der Energiewende. Sektorkopplung bietet hier viel Potenzial, die Flexibilität unserer Energiesysteme zu erhöhen. Resultierende Lastspitzen im Verkehrssektor können z.B. durch die Regelung von Stromerzeugern wie Biomasse-Anlagen oder durch das Entladen von Energiespeichern wie Batterien gedeckt werden. Durch smartes Last- und Lademanagement von flexiblen Stromverbrauchern wie Wärmepumpen und Elektrofahrzeugen können Lastspitzen sogar vorab verhindert werden. Variable Preise für Stromeinkauf und -vertrieb bieten in der Anwendung, ökonomische Anreize und Orientierung, da die Stromnachfrage sich verschiebt und Lastspitzen abflachen. Das gilt nicht nur im Verkehrssektor. Das bedeutet konkret, die Nachfrage verschiebt sich auf Zeiten, zu denen der Strompreis niedrig ist – also wenn ein hoher Anteil erneuerbarer Energieerzeugungsanlagen einspeist. Laut Agora Energiewende werden allein E-Autos, Wärmepumpen und Heimspeicher im Jahr 2030 rund 100 TWh flexible Last bereitstellen. Das entspricht einem Fünftel des derzeitigen Stromverbrauchs in Deutschland. [Agora Energiewende / Haushaltsnahe Flexibilitäten nutzen]"
Niels Tietgen: "Neben diesen 'technischen Fakten' sollte uns Verbraucher:innen auch bewusster werden, dass wir selbst eine Verantwortung tragen und unsere Flexibilität im Bezug von Energie, ergo auch die Anpassung unseres eigenen Verhaltens (z.B. die Waschmaschine mit einer Zeitschaltuhr versehen oder das Auto auch unterwegs an öffentlich verfügbaren Ladesäulen, z.B. beim Einkaufen zu laden), einen entscheidenden Beitrag auf die Verfügbarkeit von Energie leistet. Energie abrufbarer zu gestalten, setzt darüber hinaus voraus, dass der Ausbau entsprechender (Lade-) Infrastruktur flächendeckender als derzeit gegeben geschieht (insbesondere, wenn man den urbanen Raum verlässt).
Derzeit werden im Mobilitätsdiskurs verschiedene alternative Antriebstechnologien diskutiert, um den Sektor schnell klimaneutral zu machen. Auch der Einsatz von Wasserstoff ist hier denkbar - und es gibt viele gute Argumente für seinen Einsatz, jedoch muss man bei den konkreten Anwendungen abwägen. Ramboll plant in Hamm derzeit eine 20 MW Elektrolyseanlage. Wo liegen Deiner Meinung nach die besonderen Stärken von Wasserstoff? Eignet er sich als alternativer Energieträger für Mobilitätsanwendungen?
Christin Herber: Wasserstoff wird oft als ”Multitalent der Energiewende” dargestellt: Er ist speicherbar, kann also Überschussstrom, der sonst abgeregelt würde, speichern und somit einen Ausgleich von Lastspitzen ermöglichen. Zudem ist er flexibel einsetzbar - theoretisch in allen Sektoren.
Ich sage bewusst, theoretisch und möchte an dieser Stelle auf die Wasserstoffhierarchie (Hydrogen Ladder, Version 5.0) von Michael Liebreich verweisen, die diese Frage wunderbar beantwortet und veranschaulicht. Er ist ein wichtiges Instrument in der Sektorenkopplung, beschränkt sich im Verkehrssektor jedoch auf einzelne Teilsegmente im Schiff- und Flugverkehr, wenn man Liebreich glauben möchte. Er kann bei negativer und positiver Residuallast Abhilfe schaffen. Die Frage ist, ob das in der Realität dann auch so geschehen wird. Ein Blick in die besagte Wasserstoffleiter lässt vermuten: Dort ist ein batterieelektrisches System mit Abstand die wahrscheinlich durchsetzungsstärkere Technologie. Auch andere Anwendungsgebiete für Wasserstoff wie zur Wärmeversorgung, ob nun in der industriellen Prozesswärme oder zur Beheizung von Immobilien, sind denkbar, doch schätze ich auch hier die Konkurrenz zur elektrischen Wärmeerzeugung wie z.B. mit der viel diskutierten Wärmepumpe oder dem Einsatz von E-Kesseln als signifikant ein. Der Marktanteil anderer, unvermeidbarer Einsatzgebiete von Wasserstoff wie in der energieintensiven Industrie oder der Chemiegrundstoffindustrie wird dies zu verhindern wissen. Selbst der Einsatz von Wasserstoff in Gasturbinen wird, glaubt man der Einstufung von Liebreich, nur dort kommen, wo Biomasse - in welchem Aggregatzustand auch immer - nicht ausreichend vorhanden ist bzw. den Bedarf des Kraftwerks nicht decken kann. Dazu kommt die in großen Teilen noch unklare Preisgestaltung für grünen Wasserstoff, die stark abhängig von der Betriebsweise der Elektrolyseure bzw. der Importquoten, die Deutschland final erreichen wird, sein wird. Darüber hinaus würde ich hinter eine baldige Verfügbarkeit (bis 2030 sollen 10 GW Elektrolyseleistung in Deutschland in Betrieb sein) ein großes Fragezeichen setzen."
Um grünen Wasserstoff herzustellen, wird nachhaltige Energie benötigt. Die Erzeugung dieser unterliegt jedoch naturgemäß Schwankungen, eine geplante Produktion ist sehr schwierig. Welche Möglichkeiten, diesem Problem entgegenzuwirken, gibt es?
Christin Herber: "Zunächst mal möchte ich betonen, dass heutige PEM-Elektrolyseure bereits in der Lage sind sich dynamischen Lastschwankungen anzupassen und entsprechend effizient auch in Teillast betrieben werden können, zumindest laut Aussagen der Hersteller. Elektrolyseure können also verstärkt in Zeiten mit niedrigen Strompreisen und hoher regenerativer Stromerzeugung betrieben werden, was zu einer erhöhten Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit (ergo auch Akzeptanz in der Bevölkerung) führt, bei gleichzeitiger Stabilisierung des Stromnetzes. So ist z.B. schon Elsner 2015 zur Erkenntnis gelangt [Studie: Flexibilitätskonzepte für die Stromversorgung 2050 Technologien – Szenarien – Systemzusammenhänge], dass bei einem Wind- und PV-Anteil von ca. 90% ein Überschuss aus Erneuerbare Energien-Strom in über 4.000 Stunden jährlich resultiert, die von Elektrolyseuren netzstabilisierend genutzt werden könnten.
Die Anwendung von Wasserstoff und Derivaten, nicht nur im Verkehr, bedarf genauso wie die Energieträgerbereitstellung bspw. mit konventionellem Diesel oder auch die Materialbereitstellung in Industrie und Produktion Versorgungssicherheit und logistische Planbarkeit für einen reibungslosen Betrieb. Dies beinhaltet ein logistisches Konzept bzgl. Bezug, und Speicherung, ausgelegt an der Nachfrage, welche sich an den betrieblichen Bedarfen orientiert. Da wir bereits im letzten Jahr auf den Stromsektor betrachtet einen EE-Anteil von fast 52% im Jahresdurchschnitt erreicht haben, sehe ich kein Problem in einer volatilen Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Diese ist nicht nur heute schon Realität und schöpft aus über 20 Jahren Erfahrung im Auf- und Ausbau, sondern rollt der Markterschließung von grünem Wasserstoff den roten Teppich aus.
Wir sollten vielmehr über die Verfügbarkeit von entsprechender Wasserstoffversorgungsstrukturen (Erzeugung, Speicherung, Verteilung), die die Überschüsse aus erneuerbarer Erzeugung endlich optimierend nutzen können, sprechen. Zwar haben wir seitens EU mit der IPCEI Förderung im H2Infra Teilpaket allein in Deutschland seit dem 15. Februar 2024 ganze 10 Förderzusagen für die Errichtung von Elektrolyseuren, von denen mind. die Hälfte die 100 MW Marke erreichen sollen. Gleiche Situation hinsichtlich IPCEI haben wir im Bereich Verteilung (Pipeline) und Speicherung mit 12 weiteren Förderzusagen für die Umsetzung dieser Projekte. Mit Blick auf unsere Erfahrung in der Planung, Genehmigung und Entscheidungswilligkeit der Stakeholder ist das Zeitfenster von 10 bis 12 Jahren jedoch immernoch sehr ambitioniert. Lediglich 4 % positive Investitionsentscheidungen global (Global Hydrogen Review 2023) sind definitiv zu wenig, um einer Klimakrise bei gleichbleibender Versorgungssicherheit – im Verkehrs- wie im Stromsektor - Einhalt zu gewähren."
Die nachhaltige Erzeugung von Energie benötigt Flächenressourcen, Raumverteilung ist allerdings ein hart umkämpftes Thema. Interessenkonflikte sorgen häufig für Verzögerungen oder lassen geplante Vorhaben gänzlich scheitern. Wie kann ein produktiver Diskurs erreicht werden? Welche Handlungsmöglichkeiten haben Kommunen?
Christin Herber: "Hierfür gibt es keine Blaupause für alle involvierten Parteien. Wir sehen den steigenden Bedarf nach Mitbestimmung - politischer sowie wirtschaftlicher Teilhabe der Bevölkerung. Es ist aus unserer Erfahrung daher essentiell frühzeitig alle relevanten Akteure einzubinden – vom Eigentümer der Fläche selbst, über den Nachbarn der zu erschließenden Fläche bis hin zum Nutzer der am Ende erzeugten Energie sowie der Wertschöpfung entlang der Kette. Den Leuten muss vor Augen geführt werden, welchen Nutzen sie konkret für die geplante Maßnahme haben. Es bedarf eines offenen Diskurses über verschiedene (nachhaltige) Möglichkeiten, in dem Spielraum bleibt für eine Abstimmung und Entscheidung der Beteiligten. Frühzeitig informieren und einbinden über z.B. Formate in Präsenz (Bürgerversammlungen) aber auch digitale Apps, die wir in Kommunen bereits erfolgreich im Einsatz sehen für die Beteiligung. Dadurch lassen sich frühzeitig mögliche Interessenkonflikte aufklären und Motivationen einzelner Beteiligter verstehen und gegensteuern.
Jede Kommune und jeder Landkreis wählt hier andere Ansätze und natürlich hängt dies stark von den Gegebenheiten vor Ort ab – befinde ich mich in einem 'Flächenland', wo Platz bzw. Raumverteilung gar keine so große Herausforderung ist, oder muss ich schauen, wie ich die Abstandsregelungen in einem eh schon dicht besiedelten Gewerbegebiet noch einhalten kann, um meine Klimaziele zu erreichen. Über Chancen und (oft überschätze) Risiken in der Wasserstofferzeugung und -nutzung ist frühzeitig aufzuklären, damit Ängste sich nicht manifestieren können. Um ein Beispiel aus der Windenergie zu nennen: Kommunen in Hessen erhalten vom Land 20% der Pachteinnahmen, die der Windpark generiert, wenn sie im Wald errichtet wurden [AEE / Akzeptanz in den Bundesländern]. Oder das Thema Bürgerwindparks ist deutschlandweit präsent. In Mecklenburg-Vorpommern ist es für Privatpersonen beispielsweise möglich sich beim Bau eines Windparks finanziell zu beteiligen. Am Ende ist zu betonen: Wir müssen durchhalten und Geduld zeigen, vor allem aber im Gespräch miteinander bleiben. Neue Technologien benötigen immer eine Übergangszeit – im Sinne unserer gemeinsamen Zukunft und unseres Wirtschaftsstandorts Deutschland ist hier ein wohlwollendes Miteinander zur Konsensbildung gefragt."
Mit der Mobilitäts- und der Energiewende ist die Marschrichtung klar vorgegeben, die Umsetzung verläuft jedoch weitaus weniger linear und ist von Unwägbarkeiten geprägt. Ob Ziele verfehlt oder übererfüllt werden, ist häufig nicht abzusehen. Wie können die zukünftigen Energiebedarfe dennoch realistisch abgebildet werden?
Christin Herber: "Es ist leider in der Tat so, dass niemand von uns eine geopolitisch aktive Glaskugel in der Schublade hat. So sieht man am Beispiel des Ukraine-Krieges den immensen Einfluss eines so schwerwiegenden Konfliktes. Neben der humanitären Katastrophe, veranschaulicht dieser Krieg beispielhaft unsere Abhängigkeiten hinsichtlich Rohstoffverfügbarkeit, Erdgasverfügbarkeit und -preisexplosion, als nicht zuletzt auch den Einfluss auf eine Gesamtinflation. Es hat einmal mehr bestätigt, dass wir den Kurs Richtung Klimaschutzmaßnahmen und stärkeren Ausbau der erneuerbaren Energien lenken müssen, in denen auch Wasserstoff seinen Platz finden wird. Dies macht uns als Nation weniger angreifbar und finanziell abhängig, denn nur das bietet höhere Sicherheit gegenüber bspw. eines Anstiegs des Erdgaspreises wie im Rahmen der Ukraine-Krise von 70€/MWh auf teilweise über 200€/MWh. Solche Änderungen können in Vorhersagen nicht berücksichtigt werden."
Niels Tietgen: "Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Krisen dieser Art oft Fortschritte in der Forschung herbeiführen. Im Vorfeld ist das aber natürlich nicht planbar. Es bedarf daher der Entwicklung eines Portfolios an Szenarien, die dann abhängig von äußeren Einflussfaktoren immer wieder analysiert und kritisch hinterfragt werden müssen und ggf. der Realität nachgesteuert werden. Um zukünftige Energiebedarfe realistischer abzubilden, ist in jedem Fall ein umfassender, sektorübergreifender Blick gefragt. Wir müssen frühzeitig und kontinuierlich identifizieren, ob alle relevanten Sektoren berücksichtigt sind. Dazu ist ein regelmäßiger Austausch mit der Industrie, dem Verkehrssektor und den Haushalten entscheidend, um relevante Parameter in der Bedarfsmodellierung stetig zu aktualisieren und zu plausibilisieren. Ich bin davon überzeugt, dass nur ein gesamtheitlicher Ansatz, der alle Akteure einbezieht, uns zügig zum Erfolg führen kann. Es braucht die Nähe zu den Akteuren mit aktiver Teilnahme an (regionalen und kommunalen) Strategie- und Planungsprozessen, um eine frühzeitige Berücksichtigung aller Interessen in der Energiebedarfs- und Energiesystemplanung zu gewährleisten.
Durch diesen proaktiven Ansatz kann besser auf Veränderungen reagiert und eine bedarfsgerechte Umsetzung der Mobilitäts- und Energiewende sichergestellt werden. Wir müssen realistischer werden, indem wir echte Verbrauchsdaten und Trends von z.B. Antriebsentwicklungen in die systemischen Analysen einfließen lassen. Wenn wir im Dialog bleiben mit den (lokalen) Akteuren und die Modelle flexibel auf Parameteränderungen reagieren können, näheren wir uns einer realistischeren Bedarfsermittlung – sektorübergreifend."