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Grüner Wasserstoff für die Industrie: Hoher Bedarf, Herstellungskosten in Deutschland aber noch zu hoch NRL-Studie identifiziert Einsatzgebiete und Herausforderungen für energieintensive Industrie-zweige
Zukünftig wird der deutsche Bedarf an grünem Wasserstoff in der Indus-trie durch die Transformation zu klimaschonenden Technologien auf mindestens 211 TWh pro Jahr steigen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Norddeutschen Reallabors, die die Rolle von Wasserstoff zur Dekarbonisierung von sieben energieintensiven Industriezweigen un-tersucht. In fünf davon ist Wasserstoff nach derzeitigem Stand unabdingbar. Offene Fragen gibt es im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu fossilen Energieträgern: Hohe Mehrkosten für den Einsatz von grünem Wasserstoff machen wirtschaftspolitische Anreizmechanis-men erforderlich, damit Deutschland und insbesondere der Norden seine Rolle als Vorreiter in der Sektorenkopplung halten kann.
Die Studie untersucht die Möglichkeiten für den industriellen Einsatz von grünem, das heißt aus erneu-erbaren Energien gewonnenem Wasserstoff. „Eine schnelle Dekarbonisierung des Industriesektors ist zur Erreichung unserer Klimaziele unumgänglich. Grünem Wasserstoff kommt gerade in der Industrie eine Schlüsselrolle zu, denn anders als im Verkehrs- und Gebäudesektor ist direkte Nutzung von grü-nem Strom in wesentlichen industriellen Kernprozessen nicht möglich“, so Prof. Dr. Jens-Eric von Düs-terlho, Dekan der Fakultät Wirtschaft und Soziales an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Von Düsterlho ist Leiter der Arbeitsgruppe des Norddeutschen Reallabors (NRL), die hinter der Veröffentlichung steht. Das NRL ist ein vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördertes Verbundprojekt, in dem eine länderübergreifende Allianz mit 50 Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik neue Wege zur Klimaneutralität aufzeigt.
Großes Potenzial zur industriellen Dekarbonisierung
Von sieben in der Studie betrachteten energieintensiven industriellen Gütern ist grüner Wasserstoff für die Dekarbonisierung in fünf Fällen alternativlos. Für die Herstellung von Kupfer und Roheisen ist Wasserstoff als Reduktionsmittel gut geeignet, ebenso für die Herstellung von Syntheseprodukten wie Am-moniak, Methanol sowie E-Fuels und weiteren Chemikalien. Dagegen spielt Wasserstoff in der Alumi-niumproduktion keine tragende Rolle, zur Dekarbonisierung sollen zukünftig stattdessen inerte Anoden zur direkten Elektrifizierung eingesetzt werden. Für die Zementproduktion gibt es zurzeit ebenfalls keine bekannte Strategie, mit grünem Wasserstoff die Emissionen zu verhindern.
Den zukünftigen Bedarf an Wasserstoff in den genannten Industriezweigen prognostiziert die Studie wie folgt:
Die benötigten Mengen an grünem Wasserstoff für die derzeitige Produktion in Deutschland liegen für grünes Ammoniak – also Ammoniak aus grünem Wasserstoff – mit 13,8 TWh und für grünes Methanol mit 9,6 TWh in einem durch den Zubau von erneuerbarer Energie zu erreichenden Bereich.
Selbst die benötigte Menge für die Primärstahlerzeugung dürfte mit einem Bedarf von 68 TWh grünem Wasserstoff in einem erreichbaren Bereich liegen.
Die Kupferreduktion und der daraus resultierende Wasserstoffbedarf von 30 GWh stellt mengenmäßig keine große Herausforderung dar.
Im Gegensatzdazu ist die Größenordnung des Bedarfs an grünem Wasserstoff, der für die Herstellung von Alternativen zu klassischen Raffinerieprodukten (E-Fuels und Chemikalien) in heutigen Mengen erforderlich wäre, mit 828 TWh enorm. Es ist im Zuge der Mobilitätswende hier jedoch eine deutliche Veränderung des Kraftstoffbedarfs zu erwarten (vgl. Teil 3 der Studienreihe). Vernachlässigt man beispielsweise die Substitution heutiger Produktionsmengen von Benzin und Diesel durch E-Fuels in der Bedarfsermittlung, ergäbe sich ein Wasserstoffbedarf von lediglich 120 TWh für die Herstellung von synthetischem Kerosin für den Flugverkehr und synthetischer Kohlenwasserstoffe als Ersatz für Chemikalien aus dem herkömmlichen Naphtha-Cracking in der petrochemischen Industrie.
„Um die heutigen Produktionsmengen in Deutschland bei Defossilisierung weiterhin erzeugen zu kön-nen, läge der industrielle Wasserstoffbedarf bei mindestens 211 TWh. Neben der stark an die Mobili-tätswende gekoppelten Herstellung von Kraftstoffen sehen wir eine hohe Dynamik in den Bedarfsmen-gen der Chemikalien Methanol und Ammoniak. Diese wären kostentechnisch früher konkurrenzfähig gegenüber erdgasbasierten Verfahren herzustellen als Kupfer oder Stahl, bieten aber auch eine gute Möglichkeit als Import-Derivat für Wasserstoff. Es bedarf daher für die betrachteten Erzeugnisse detail-lierter Analysen, um Aussagen über den zukünftigen Bedarf zu treffen“, erläutert Studienautor Lucas Jürgens vom Competence Center für Erneuerbare Energien und EnergieEffizienz (CC4E) der HAW Hamburg.
Derzeit kaum Konkurrenzfähigkeit zu fossilen Energieträgern
Die Studie untersucht insbesondere die Wirtschaftlichkeit des Einsatzes von grünem Wasserstoff in Konkurrenz zu fossilen Energieträgern. Bis zur Erreichung einer Kostenparität ist es der Studie zufolge noch ein langer Weg. Legt man die geschätzten aktuellen Herstellungskosten für grünen Wasserstoff in Deutschland von 5,99 €/kg (Hydex, grenzkostenbasiert exkl. Transport & Kapitalkosten) bzw. 7,99 €/kg (Hydrix, marktbasiert inkl. Transport) zugrunde, wird deutlich, dass es bislang noch keine wettbewerbs-fähigen Produktionskosten bei mit erneuerbarem Strom hergestelltem Wasserstoff gibt. Die Studie kommt zu folgenden Preisgrenzen:
Die Herstellung von grünem Ammoniak wäre bei Wasserstoffbezugskosten von 4,40 € pro kg H2 konkurrenzfähig gegenüber konventionell hergestelltem Ammoniak. Damit wäre grünes Am-moniak schon bei deutlich höheren Preisen für grünen Wasserstoff wettbewerbsfähig als grünes Methanol, Kupfer oder Primärstahl.
Grünes Methanol würde gegenüber konventioneller Herstellung mit Erdgas erst konkurrenzfä-hig, wenn die Wasserstoffbezugskosten bei 3,01 € pro kg H2 lägen. Der Preisnachteil gegenüber Ammoniak ergibt sich insbesondere aus den zusätzlichen Kosten des nicht-fossilen CO2 von 125 € pro Tonne.
Für die Metallherstellung ergibt sich die Kostenparität von grünen Erzeugnissen erst bei niedri-gen Wasserstoffpreisen von 2,86 €/kg für die Kupferreduktion und 2,13 €/kg für die Produktion von Primärstahl.
Die Studie zeigt aber auch, dass es mehrere Stellschrauben gibt, um die Wettbewerbsfähigkeit zu ver-bessern. Es ist zum Beispiel davon auszugehen, dass durch technischen Fortschritt und Skaleneffekte Wasserstoff günstiger wird und gleichzeitig durch höhere Preise für CO2-Emissionen bzw. -Zertifikate bei höheren Preisen Kostenparität eintritt.
Lokale Wasserstoffproduktion muss gefördert werden
Das in der Studie aufgezeigte Preisdelta zwischen lokal erzeugtem Wasserstoff und fossilen Energie-trägern zeigt deutlich, dass hier Handlungsbedarf besteht. Auf dem Weg zu einer kohlenstoffneutralen Wirtschaft stellt sich für viele Unternehmen inzwischen die Frage, in welchem Land die besten Produk-tionsbedingungen für erneuerbare Energien liegen. Längst gibt es Überlegungen, ob sich nicht grünes Ammoniak und grünes Methanol in anderen Ländern günstiger produzieren und als Wasserstoff-Derivat nach Deutschland importieren lassen. Eine allein auf Schiffsimporte von grünem Ammoniak und grünem Methanol aus Drittländern basierende Strategie würde aber insbesondere die chemische Industrie in Deutschland unter Konkurrenzdruck bringen, die diese Produkte bisher in großem Maßstab herstellt. „Auch wenn sich Deutschland auf lange Sicht nicht komplett selbst versorgen können wird, ist es wichtig, den Aufbau von lokalen Elektrolysekapazitäten und Wasserstoffinfrastruktur konsequent umzusetzen, um schnell zu defossilisieren. Norddeutschland bietet mit viel Windstrom hervorragende Bedingungen, um sich mit wasserstoffbasierten Verfahren als Vorreiter der Sektorenkopplung zu etablieren. Insbeson-dere industriepolitisch ist es geboten, Know-how und Technikkompetenz in Deutschland zu halten. Nur eine lokale und kostengünstige Wasserstoffproduktion wird eine derartige Entwicklung nachhaltig sichern können“, appelliert Mike Blicker, Projektkoordinator des Norddeutschen Reallabors.