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"Sharing is caring – become a part of history" Das Forschungsprojekt "Coronarchiv" der Universität Hamburg

Im folgenden Interview berichten die Historiker Prof. Dr. Christian Bunnenberg von der Ruhr-Universität Bochum und Nils Steffen von der Universität Hamburg über ihre Ziele und Motive in ihrem frisch aufgelegten Projekt "Coronarchiv".

Nils Steffen (UHH)

EEHH: "Welches Ziel verfolgen Sie mit Projekt 'coronarchiv'?"

Nils Steffen: "Das 'coronarchiv' steht unter dem Motto „sharing is caring – become a part of history“. Wir möchten Erlebnisse, Gedanken, Medien und Erinnerungen zur gegenwärtigen 'Corona-Krise' sammeln. Aktuell erleben wir alle Veränderungen unseres Alltags, die gravierend sind und wirklich jede und jeden in unserer Gesellschaft betreffen. Doch jeder Mensch erlebt dies anders: sei es eine Pflegekraft im Krankenhaus, jungen Eltern im Homeoffice, ihre Kinder im Homeschooling, Geflüchtete in Sammelunterkünften oder Historiker wie wir. Diese Diversität möchten wir durch eine Dokumentation der Gegenwart einfangen und für die Nachwelt erhalten. Irgendwann wird die Pandemie vorbei sein. Wie dann über die 'Corona-Krise' gedacht und in den Geschichtsbüchern über sie berichtet wird, hängt maßgeblich davon ab, welche Zeugnisse und Stimmen erhalten bleiben. Ziel des 'coronarchivs' ist es also, dafür zu sorgen, dass die Überlieferung so vielfältig und facettenreich sein wird, wie wir und unsere Lebenssituationen im Moment. Daher rufen wir alle Menschen dazu auf, ihre Eindrücke und Erlebnisse mit anderen über unser Portal zu teilen."

EEHH: "Wann kam Ihnen und Ihren Kollegen das erste Mal der Gedanke, dieses Projekt aufzusetzen?"

Christian Bunnenberg: "Das können wir sogar ziemlich genau sagen: Am Sonntag, den 22. März 2020. Die Bundeskanzlerin berichtete in einer Pressekonferenz von den durch Bund und Länder beschlossenen Maßnahmen und Einschränkungen. Direkt im Anschluss begab sie sich in häusliche Quarantäne. Ich fragte auf Twitter: ‚Wie kann dieses Gefühl, diese Verunsicherung, dieses Auflösen von Verlässlichem in der Geschichtsschreibung und im Geschichtsunterricht deutlicher betont werden? Lineare Erzählungen gehen an der Erfahrung der Zeitgenossen vorbei.‘ Es folgten eine Diskussion mit Kolleg*innen und ein Skype-Gespräch am folgenden Tag. Dann ging es Schlag auf Schlag: Innerhalb von drei Tagen haben wir als gemeinsames Projekt der Universitäten Bochum, Hamburg und Gießen die Website aufgesetzt und sind online gegangen. Die Aufmerksamkeit, die das Projekt seitdem in der Presse, der Wissenschaft und in der Bevölkerung erlangt hat, ist für uns wirklich überwältigend.

EEHH:"Gab es bereits ein ähnliches Projekt in der Vergangenheit, auf das Sie Ihre Erfahrungen stützen können?"

Nils Steffen: "Die Zahl digitaler Sammlungen und Archive steigt seit Jahren kontinuierlich. Für uns steht im Vordergrund, dass nicht wir selbst sammeln und auswählen, sondern dass alle Menschen die Möglichkeit haben, ihre Eindrücke, Erlebnisse und Fundstücke zu dokumentieren. Diese Form der Citizen Science ist für uns das Herzstück des Projekts. Sie ermöglicht eine Archivierung von gesellschaftlicher Vielfalt, die uns besonders wichtig ist.Aufbauen konnten wir auf die technische Lösung 'Omeka S', ein Content-Management-System, das vom Roy Rosenzweig Center for History and New Media (USA) entwickelt und bereitgestellt wird."

EEHH: "Andere Universitäten haben ähnliche Projekte ins Leben gerufen. Tauschen Sie sich aus?"

Christian Bunnenberg: "Digitale Sammlungen zur Corona-Krisen sprießen derzeit weltweit wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden. Wir freuen uns, dass wir eines der ersten Projekte dieser Art sind. Nicht, weil dies eine Leistung wäre, sondern weil seitdem zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland Kontakt zu uns aufgenommen haben, um Erfahrungen auszutauschen und Kooperationen anzuregen. So sind wir in engem Kontakt mit Teams aus Luxemburg und Österreich. Unzählige Museen und Archive sammeln zudem auf lokaler Ebene. Das Medizinhistorische Museum Hamburg, die Stiftung Hamburgische Museen und das Landesmuseum Württemberg gehören schon zu unseren Kooperationspartnern. Alle Beiträge, die sie sammeln, werden bei uns im 'coronarchiv' langfristig gesichert. Mit der Körber-Stiftung, die alle zwei den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten ausrichtet, haben wir eine Mitmach-Aktion für junge Menschen bis 21 Jahre ins Leben gerufen – auch aus dem Bewusstsein heraus, dass Stimmen von Kindern und Jugendlichen sonst nur selten für die Zukunft erhalten bleiben.

Parallel dazu erreichen uns von Kolleginnen und Kollegen verschiedener Disziplinen auch Fragen zur Archivierung, Zugänglichkeit und Auswertung. Dies sind wichtige Fragen, die wir in der extrem kurzen Vorbereitungszeit nicht abschließend erörtern konnten. Daher planen wir derzeit einen Workshop, bei dem wir uns zunächst austauschen und dann das 'coronarchiv' weiterentwickeln können. Insbesondere Sammlungsexpert*innen aus Archiven und Museen haben hier schon ihre Unterstützung zugesagt, was uns sehr freut."

EEHH: "Wie sahen die Reaktionen der Hamburgerinnen und Hamburger auf Ihren Aufruf aus? Haben Sie bereits viele Zuschriften erhalten?"

Nils Steffen: '"Das 'coronarchiv' ist extrem positiv aufgenommen worden. In gerade einmal zwei Wochen haben wir rund 600 Einreichungen bekommen. Das übertrifft bei weitem unsere Erwartungen. Außerdem wurden uns ganze Sammlungen angeboten mit vielen hunderten weiteren Zeitzeugnissen. Wir können das nur bewältigen, weil ein achtköpfiges und ehrenamtliches Team die Einreichungen moderiert und uns in den sozialen Medien unterstützt. Das gesamte Team besteht aus Idealist*innen, die für die Sache brennen. In einer nächsten Projektphase müssen wir dringend für Verstetigung sorgen und uns um Fördermittel bemühen.

Unsere Reichweite ist sicherlich auch auf die Online-Präsenz zurückzuführen: Über unsere Social-Media-Kanäle werden wir inzwischen täglich auf spannende Funde hingewiesen. Nutzer*innen weisen sich auf Twitter und Instagram wechselseitig auf unser Projekt hin und animieren zur Beteiligung. Es bekommt ein Eigenleben – das ist toll."

EEHH: "Wann wurde Ihnen persönlich bewusst, welche Tragweite die aktuelle Corona-Pandemie für die Welt besitzt?"

Christian Bunnenberg: "Da wir noch mitten in der Krise sind, können wir die tatsächliche Tragweite eigentlich nicht abschätzen. Aber spätestens seit den vielen Einschränkungen im Alltag seit Mitte März wurde die Zuschreibung 'historisch' in fast allen Medien gebraucht. Zusammen mit der Stimmung in unserem Umfeld Anlass genug, um zu dokumentieren und zu archivieren, damit nachfolgende Generationen Ihre Frage besser beantworten und kontextualisieren können."

Beteiligen auch Sie sich mit Ihren persönlichen Eindrücken am "coronarchiv":

www.coronarchiv.de

 

 

Über Astrid Dose

Profilbild zu: Astrid Dose

Reden, schreiben und organisieren – und das mit viel Spaß! So sehen meine Tage beim EEHH-Cluster aus. Seit 2011 verantworte ich die Öffentlichkeitsarbeit und das Marketing des Hamburger Branchennetzwerkes. Von Haus aus bin ich Historikerin und Anglistin, mit einem großen Faible für technische Themen.

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