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Regionale Stromgebotszonen in Deutschland – Netzentlastung oder Preisfalle? Doppel-Interview mit Prof. Dr. Hans Schäfers (HAW) und NRL-Projektkoordinator Mike Blicker
Die Debatte über die Aufteilung der deutschlandweiten Stromgebotszone in mehrere regionale Zonen ist nicht neu, hat jedoch mit der Forderung der Regierungschefs der norddeutschen Bundesländer Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein im Sommer dieses Jahres wieder an Fahrt aufgenommen. Die Folgen eines solchen Splits auf die Strom- und in der Konsequenz Wasserstoffpreise, den Netzausbau und den Industriestandort Deutschland werden kontrovers beurteilt. Im Experteninterview geben Prof. Dr. Hans Schäfers (Leiter CC4E der HAW Hamburg) und Mike Blicker (Projektkoordinator des Verbundprojekts Norddeutsches Reallabor (NRL)) einen realistischen Einblick in diverse Szenarien.
EEHH: Können Sie kurz das Konzept der einheitlichen Stromgebotszone erklären und warum es bislang als zentraler Pfeiler des deutschen Strommarktes gilt?
Prof. Dr. Schäfers: Im konventionellen, fossilen System wurde der Strom in den Kraftwerken so erzeugt, dass er auf den höchsten Spannungsebenen ins Netz eingespeist und dann über die verschiedenen Netzebenen (Hochspannung, Mittelspannung, Niederspannung) bis zu den Verbrauchern heruntergereicht wurde. In einem solchen Trichtersystem lässt sich die Erzeugung auf der höchsten Spannungsebene bündeln und in einem einheitlichen System vermarkten. Zudem sind die Kraftwerke räumlich über die Bundesrepublik verteilt, wodurch ein großer Markt mit hoher Erzeugungsleistung in einer Gebotszone entstanden und mit diesem Modell gewachsen ist. Durch das Merit-Order-Prinzip konnten in diesem System Anreize für eine möglichst effiziente und kostengünstige Stromerzeugung gesetzt werden.
EEHH: Wie ist das in der EU geregelt? Haben die einzelnen Mitgliedsstaaten auch jeweils eigene nationale Stromgebotszonen?
Prof. Dr. Schäfers: Auch in den europäischen Nachbarländern sind nationale Stromgebotszonen historisch gewachsen. Es gibt zwar Austäusche im Verbundnetz mit den Nachbarländern, aber diese sind durch die Kapazität der Interkonnektoren bzw. Grenzkuppelstellen limitiert. Das heißt, es kann nicht unbegrenzt Strom zwischen den EU-Staaten ausgetauscht werden. Ein stärkerer grenzüberschreitender Austausch würde den Strompreis zusätzlich senken und ist deshalb politisch gewünscht.
EEHH: Warum wird jetzt ein Split diskutiert? Welche strukturellen Probleme im deutschen Stromsystem sollen dadurch gelöst werden?
Prof. Dr. Hans Schäfers: Da wir die fossilen Kraftwerke zunehmend durch erneuerbare Energien ersetzen, haben sich die physikalischen Gegebenheiten geändert. Der Strom aus Wind und Solar wird in der Regel nicht auf der Höchstspannungsebene (380 kV), die für den Langstreckentransport nötig ist, sondern hauptsächlich auf Mittelspannungsebene eingespeist. Das bedeutet, dass Netzkapazitäten diese Strommengen nun transportieren müssen, die für diese Verteilung nie gebaut wurden. Unser aktuelles System hat dadurch begrenzte Austauschkapazitäten an Netzkuppelstellen, und zwar nicht zwischen EU-Ländern, sondern zwischen verschiedenen Regionen in Deutschland – insbesondere zwischen Norden und Süden gibt es einen markanten Schnitt.
Physikalisch kann der Süden im Norden gar nicht mehr Windstrom verbrauchen, als über die Netze auch tatsächlich transportiert werden kann. Der Handel ist aber überhaupt nicht limitiert. Und diese Reflexion findet momentan gar nicht statt. Im Tagesgeschäft wird häufig mehr Strom eingekauft, als physikalisch transportiert werden kann. Gleichzeitig darf der Netzbetreiber trotz Kenntnis der Lage nicht ins Marktgeschehen eingreifen und kann erst auf den Netzengpass am Folgetag reagieren. Infolgedessen wird dann Redispatch angeordnet, der außerordentlich teuer ist. Eine Aufteilung des gemeinsamen Strommarktes würde den Redispatchbedarf deutlich verringern. Der Markt könnte dann die tatsächlichen Transportmöglichkeiten berücksichtigen, ähnlich wie im Handel mit unseren europäischen Partnern.
EEHH: Welche Chancen und Risiken hätte eine Aufteilung der Stromgebotszone für Deutschland insgesamt – sowohl für Verbraucher als auch für Industrie und Energiewende?
Prof. Dr. Hans Schäfers: Das größte Risiko für die Industrie ist der Verlust der Planungssicherheit. Strompreisprognosen, die auf bestehenden Tools und Erfahrungswerten beruhen, wären zunächst hinfällig. Ein weiteres Risiko ist eine zu erwartende Preissteigerung in den Lastzentren aufgrund verringerter Angebotsmenge. Gleichzeitig könnte ein erhöhter Strompreis in Industriezentren (im Süden) Anreize schaffen, um dort zusätzliche Produktionskapazitäten aufzubauen. Auch der Netzausbau würde durch das Preisgefälle incentiviert, da ein finanzielles Interesse bestünde, günstig produzierten Windstrom physisch in den Süden zu transportieren. Entscheidend ist der Preis: Ist es günstiger, dickere Leitungen in den Süden zu legen oder mehr Produktionskapazität in Form von Wind & Photovoltaik in Bayern und Baden-Württemberg zu errichten? Es besteht zudem die Sorge, dass Industrieunternehmen von Süden in den Norden wandern.
Ein weiteres Gegenargument ist, dass der Aufteilungsprozess in neue Strompreiszonen fünf bis sechs Jahre in Anspruch nimmt. Zum Zeitpunkt des prognostizierten Prozessabschlusses sollten die Netze nach heutiger Prognose hinreichend ausgebaut sein, sodass der Split bei seiner Einführung schon wieder mehr oder weniger überflüssig wäre. Unsere Simulationen bestätigen dies für die frühen 2030er Jahre, ab 2035 wäre das aber schon wieder nicht mehr der Fall, da Produktionskapazitäten für Windstrom im Norden weiter stark steigen. Möchten wir das Stromsystem komplett auf Erneuerbare umstellen, müssten wir die derzeitigen 200 GW EE-Stromerzeugungskapazität auf etwa 600 GW verdreifachen. Ein Ausbau, der sich bei der Windenergie vorwiegend auf den Norden konzentrieren wird.
Mike Blicker: Die Vorteile klingen bereits in den Antworten von Hans Schäfers an. In erster Linie würden bei einem Stromgebotszonensplit die enorm hohen Redispatch-Kosten massiv gesenkt. Außerdem hätte eine Aufteilung massive Implikationen für die Sektorenkopplung: Mit günstigem Strom im Norden könnte grüner Wasserstoff nahe an der Erzeugungsstelle produziert werden, was den Wasserstoffpreis direkt senken würde.
EEHH: Das ist eine gute Überleitung zur nächsten Frage: Gibt es aus Sicht des Norddeutschen Reallabors bereits Studien, Modellierungen oder Projektergebnisse, die Hinweise geben, wie sich ein Stromgebotszonen-Split auf Strom- und Wasserstoffpreise auswirken würde? Und welche Position nimmt das Norddeutsche Reallabor (NRL) in dieser Debatte ein?
Mike Blicker: Die meisten Studien und auch unsere Projektpartner gehen davon aus, dass der Strompreis im Norden bei einem Split in zwei oder mehrere Gebotszonen sinken würde. Für die Wasserstofferzeugung ist das entscheidend, weil der Strompreis den Wasserstoffpreis unmittelbar beeinflusst. Hinzu kommt, dass insbesondere bei der PEM-Elektrolyse, aber auch modernen alkalischen Elektrolyseuren ein flexibler Betrieb möglich ist, was die bessere Nutzung von temporär niedrigen Strompreisen ermöglichen würde. Bei einem Split würden in Norddeutschland noch häufiger niedrige Strompreise auftreten und dadurch würde auch mehr Wasserstoff zu einem niedrigeren Preis produziert.
Ein zweiter nicht zu vernachlässigender Aspekt ist die Regulatorik. Die Europäische Kommission hat im delegierten Rechtsakt festgelegt, dass Wasserstoff nur dann als nachhaltig beziehungsweise RNFBO (Renewable Fuel of non-biological origin)-konform gilt, wenn der zur Erzeugung verwendete Strom aus erneuerbaren Energien stammt und sowohl zeitlich als auch räumlich der Wasserstofferzeugung eindeutig zuzuordnen ist. Beim Aspekt der örtlichen Nähe, die rechtlich über die Gebotszone definiert wird, ist eine deutschlandweite Gebotszone förderlich, der zeitliche bzw. anlagenspezifische Nachweis führt derzeit allerdings zu Kostensteigerungen. Im NRL haben wir Erhebungen, die davon ausgehen, dass der Preis pro Kilogramm Wasserstoff nur durch die Vorgaben, wie der Strom eingekauft werden muss (Power Purchase Agreements – PPAs), um einen bis zwei Euro höher ausfällt. Würde es eine eigene Stromgebotszone für Norddeutschland bzw. die Metropolregion Hamburg geben, könnten diese aufwändigen Grünstrom‑ und Zertifizierungsverfahren entfallen, weil in einer solchen Zone der Erneuerbaren‑Anteil in den letzten drei Jahren bereits 90 Prozent übersteigt. Der delegierte Rechtsakt würde den dort genutzten Strom dann als Grünstrom einstufen, ohne dass komplizierte und teure PPAs nötig wären. Ein bedeutender Hebel für den Preis.
EEHH: Welche konkreten preislichen Auswirkungen hätten regionale Stromgebotszonen auf die Verbraucher?
Prof. Dr. Hans Schäfers: Reduzierte Kosten für den Redispatch entlasten unmittelbar die Netzentgelte und damit die Stromkosten für alle Verbraucher. Ganz egal, wo sie sich im Netz befinden. Ob es darüber hinaus regionale Strompreisunterschiede geben würde, hängt davon ab, wie die Versorger sich in den neuen Strommärkten positionieren. Der Endkundenpreis ergibt sich traditionell in der Regel als Mischpreis verschiedener Einkaufstrategien, die das Risiko aus Strompreisschwankungen für den Endkunden abpuffern sollen. Das geht auch über verschiedenen Strompreiszonen hinweg. Aber grundsätzlich gäbe es vermutlich zunächst eine Tendenz zu etwas günstigeren Strompreisen im Norden und etwas teureren im Süden.
EEHH: Welche Folgen hätte ein regional differenzierter Strompreis für den Wasserstoffmarkt und könnte damit die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands insgesamt gestärkt werden?
Mike Blicker: Das ist natürlich eine weitreichende These. Die positiven Entwicklungen auf den Wasserstoffpreis aufgrund von geringeren Stromkosten, einer stärkeren Auslastung der Elektrolyseure und vereinfachter H2-Regulatorik habe ich bereits dargelegt. Allerdings müsste der Wasserstoff auch vom Erzeugungsort zu den Verbrauchern transportiert werden. Der Ausbau des Wasserstoffkernnetzes und gegebenenfalls zusätzlicher Leitungen ist dafür notwendig, da der Wasserstoff im Norden produziert werden kann und zudem über die Importhäfen anlandet.
Regionale Stromzonen setzen aber auch für Batteriespeicher Preisanreize. Diese würden dann in Netzgebieten gebaut, wo diese wirklich gebraucht werden. Derzeit gibt es bei der Standortwahl solcher Speicher wenig Anreize für Netzdienlichkeit. Durch regionale Stromzonen könnte so das Stromsystem und Gesamtdeutschland profitieren. Was den Wasserstoff angeht, allerdings nur, wenn die nötige Pipeline-Infrastruktur entsteht und Wasserstoff auch zu den Anwendern gebracht werden kann. Pipelines können im Vergleich zu Stromtrassen über chemische Energieträger deutlich größere Mengen Energie zu günstigeren Preisen durchs Netz bringen, insbesondere wenn alte Gasleitungen umgewidmet werden können.
Prof. Dr. Hans Schäfers: Aus Sicht des NRL überwiegen die positiven Effekte regionaler Stromzonen eindeutig. Wir begrüßen mehr Offenheit für dieses Thema. Wenn die Politik die Energiewende über Marktmechanismen vorantreiben und regulatorische Vorgaben reduzieren will, sollte sie sich diesem Instrument nicht verschließen.
EEHH: Vielen Dank für das aufschlussreiche Interview!