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Dekarbonisierung des Wärmesektors Wärmeforschung an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg (HSU)

Im Interview erläutet Prof. Dr. Sandra Afflerbach die neuen Forschungsansätze im Wärmebereich an der HSU.

EEHH: Sie forschen an thermochemischen Wärmespeichern, die das Potenzial haben signifikant zur Dekarbonisierung des Wärmesektors beizutragen. Welche ungenutzten Potenziale gibt es Ihrer Meinung nach?

Prof. Dr. Sandra Afflerbach: "Thermochemische Wärmespeicher bieten enorme, bislang oft unterschätzte Möglichkeiten, um zukünftig den Wärmesektor kosteneffizient zu dekarbonisieren und nachhaltiger zu gestalten. Anfänglich war der Einsatz thermochemischer Speicher beispielsweise in solarthermischen Kraftwerken vorgesehen, wo überschüssige Sonnenenergie gespeichert und bei Bedarf zur Stromerzeugung genutzt werden kann – auch dann, wenn die Sonne nicht scheint. Ein weiteres großes Potenzial liegt in der saisonalen Speicherung: Überschüssige Wärme aus dem Sommer kann so für den Winter nutzbar gemacht werden. Auch industrielle Abwärme, die bisher häufig ungenutzt verpufft, lässt sich speichern und später zur Bereitstellung von Heiz- oder Prozesswärme einsetzen. Moderne Hochtemperaturwärmepumpen können auf Basis des Funktionsprinzips thermochemischer Materialien ermöglichen, das Temperaturniveau von Abwärme anzuheben und damit wieder nutzbar zu machen. Nicht zuletzt eröffnet die Umwandlung von überschüssigem Strom aus Photovoltaik- oder Windkraftanlagen in Wärme (Power-to-X) neue Wege, verschiedene Energiesektoren intelligent miteinander zu koppeln."

EEHH: Sie befassen sich mit thermischer Energiespeicherung – was versteht man darunter? Bitte erläutern Sie die Funktionsweise.

Prof. Dr. Sandra Afflerbach: "Die Speicherung thermischer Energie beruht auf Materialien, die nach dem Funktionsprinzip ihrer Be- und Entladung in drei verschiedene Gruppen aufgeteilt werden:

1) Sensible Wärmespeicherung
Hier erfolgt die Beladung sensibel, d.h. fühlbar, durch Erwärmen des Speichermaterials. Analog erfolgt die Entladung über dessen Abkühlung.

2) Latente Wärmespeicherung
In diesem Fall erfolgt die Be- bzw. Entladung sozusagen versteckt während eines Phasenübergangs des Speichermaterials wie beispielsweise von fest zu flüssig bzw. flüssig zu fest.

3) Thermochemische Wärmespeicherung
Diese Form der Speicherung beruht auf reversiblen, d.h. umkehrbaren chemischen Reaktionen. Bei der Beladung wird das Ausgangsmaterial unter Zufuhr von Wärme in ein festes und ein gas-förmiges Reaktionsprodukt zerlegt. Solange diese beiden Produkte während der Speicherperiode getrennt voneinander gelagert werden, kann keine Rückreaktion unter Wärmeabgabe stattfinden, bis dies während der Entladung beabsichtigt ist.

Bei einem Vergleich der spezifischen Eigenschaften der drei Gruppen zeigt sich, dass thermochemische Speicher im Gegensatz zu sensiblen oder latenten Speichern beliebig lange Speicherperioden ohne kostenintensive thermische Isolierungen verlustfrei durchlaufen können. Auch bieten sie die Möglichkeit einer räumlichen Separation der Be- und Entladereaktion. Ein weiterer entscheidender Vorteil ist die vergleichsweise hohe Speicherdichte thermochemischer Materialien. Diese Aspekte machen solche Stoffe besonders aussichtsreich für die effiziente Wärmespeicherung – beispielsweise um solarthermische Anlagen grundlastfähig zu machen. Jedoch können diese Materialien noch mehr:

Weil die Be- und Entladetemperatur jedes thermochemischen Reaktionssystems, welches auf reversiblen Gas-Feststoffreaktionen beruht, vom Gasdruck des Reaktionspartners abhängig ist, kann die Entladung bei einer höheren Temperatur erfolgen als die Beladung. Das bedeutet, dass ansonsten verlorene Abwärme auf ein wieder nutzbares Temperaturniveau angehoben, d.h. transformiert, werden kann.

Damit kann in der Folge der Primärenergiebedarf gesenkt werden. Dies ist insbesondere für die Industrie, beispielsweise in Gießereien oder Stahlwerken, von herausragender Bedeutung für die Steigerung der Effizienz der Energienutzung, da hier bislang Abwärme in großen Mengen anfällt. Aktuellen Berechnungen zufolge können bei vollständiger Nutzung der Abwärme rund 45% des Energiebedarfs für Heizwärme abgedeckt werden!"

EEHH: Wichtig bei der thermochemischen Energiespeicherung sind die verwendeten Materialien. Warum? Wie verändern sich diese während der Speicherung? Was muss beachtet werden?

Prof. Dr. Sandra Afflerbach: "Die Wahl des zur Anwendung passenden Materials ist entscheidend für die Funktionsfähigkeit, Leistungsfähigkeit und Langlebigkeit thermochemischer Speicher. Bei wiederholten Lade- und Entladezyklen verändern sich die Eigenschaften der pulverförmigen oder granulierten Partikel – beispielsweise hinsichtlich ihrer Größe und Form. Das kann die Handhabung im technischen Maßstab erschweren und macht gezielte Materialmodifikationen, wie z.B. eine Kapselung, sowie Anpassungen der verwendeten Reaktoren notwendig. Daraus ergeben sich zahlreiche wissenschaftliche Fragestellungen für grundlagenorientierte Forschung aber ebenso für anwendungsnahe Entwicklungen.

Ein weiteres, fundamentales Kriterium ist es, dass die Beladetemperatur des Materials zum Temperaturniveau der jeweiligen Wärmequelle passen muss. Deshalb suchen wir ständig nach neuen, geeigneten Materialien, die möglichst viele Anwendungsfelder abdecken – insbesondere im Bereich der industriellen Abwärmenutzung. Neben der Reversibilität der Reaktion müssen diese Materialien kostengünstig, gut verfügbar, ungiftig und möglichst speicherdicht sein.

Besonders vorteilhaft haben sich kalkbasierte thermochemische Speichermaterialien erwiesen. Sie sind nicht nur weit verbreitet und preisgünstig, sondern zeichnen sich auch durch eine hohe Speicherdichte und eine gute Reversibilität der chemischen Reaktion aus. Kalkbasierte Materialien sind zudem ungiftig und umweltverträglich, was ihre Anwendung in großem Maßstab erleichtert. Im Rahmen des Vorgängerprojekts BERTI konnte ich ein innovatives kalkbasiertes Speichermaterial entwickeln, das auf der Weltausstellung in Dubai präsentiert wurde. Diese internationale Anerkennung unterstreicht das Potenzial solcher Materialien für die nachhaltige Wärmewende und motiviert uns, ihre Eigenschaften und Einsatzmöglichkeiten weiter zu erforschen.

Zur Identifikation neuer, geeigneter Speichermaterialien führen wir in unserer Arbeitsgruppe Untersuchungen an wasserhaltigen und carbonatischen Mineralien durch, was sich bereits als sehr erfolgreiche Vorgehensweise herausgestellt hat. Dazu testen wir in geeigneten Apparaturen im Labormaßstab die Umkehrbarkeit / Reversibilität der Be- und Entladung, die Zyklenstabilität, Veränderungen der Partikelgröße und Morphologie und erproben effiziente Wege zur synthetischen Herstellung dieser Verbindungen."

EEHH: Sie sind aktuell auch auf der Suche nach Projektpartnern bzw. Unternehmen. Welche Voraussetzungen sollte diese erfüllen? Was wollen Sie mit denen gemeinsam entwickeln?

Prof. Dr. Sandra Afflerbach: "Die Interdisziplinarität des Forschungsthemas und die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten der Speichersysteme eröffnen zahlreiche Kooperationschancen mit Wissenschaft und Industrie. Wir suchen Unternehmen mit abwärmeintensiven Prozessen, um das Potenzial der Abwärmenutzung zu evaluieren und innovative Speichersysteme zu erproben. Ein weiterer Fokus liegt auf der Speicherung von überschüssigem Strom aus Photovoltaik- oder Windkraftanlagen – auch hier wollen wir neue Systeme entwickeln, deren Effizienz unter realistischen Bedingungen testen und Wirtschaftlichkeit bewerten. Willkommen sind Partner aus der Materialentwicklung mit Erfahrung in Herstellung und Skalierung pulverförmiger oder granulierter Feststoffe, um Verfahren weiterzuentwickeln und den industriellen Einsatz vorzubereiten. Kooperationen mit Unternehmen, die Expertise in Entwicklung und Konstruktion von Reaktoren für Festkörperreaktionen haben, sind besonders vielversprechend – insbesondere für Verfahrenstechnik und Prozessführung, um innovative Reaktorkonzepte im großtechnischen Maßstab umzusetzen und die Integration in industrielle Prozesse optimal zu gestalten."

EEHH: Beschreiben Sie kurz ein aktuell laufendes Projekt aus der Wärmeforschung.

Prof. Dr. Sandra Afflerbach: "Neben der grundlagenorientierten Forschung zu reversiblen Gas-Feststoffreaktionen bereiten wir ein anwendungsnahes Projekt vor, das auf dem Vorgängerprojekt BERTI – Bewegtes Reaktionsbett zur thermochemischen Energiespeicherung aufbaut. Ziel ist es, industrielle Abwärme in kalkbasierten Speichermedien zu speichern und später als Heizwärme bereitzustellen. Feldtests mit dem entwickelten Speichersystem aus Reaktor und Material sollen den Betrieb erstmals im technischen Maßstab unter realen Bedingungen erproben und anschließend umfassend technoökonomisch bewerten. So erhalten wir praxisnahe Daten für eine realistische Einschätzung des Marktpotenzials und wegweisende Erkenntnisse für die weitere Entwicklung und Optimierung."

Vielen Dank für das spannende Interview!

 

Über Astrid Dose

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Reden, schreiben und organisieren – und das mit viel Spaß! So sehen meine Tage beim EEHH-Cluster aus. Seit 2011 verantworte ich die Öffentlichkeitsarbeit und das Marketing des Hamburger Branchennetzwerkes. Von Haus aus bin ich Historikerin und Anglistin, mit einem großen Faible für technische Themen.

von Astrid Dose