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Agilität – nur ein Trend oder das neue Normal? Die Welt wird immer schneller und komplexer. Das verändert die Art, wie wir arbeiten, grundlegend.

Innovation betrifft nicht nur Produkte und Dienstleistungen, sondern auch Prozesse und die Art, wie wir zusammenarbeiten. In dem Zusammenhang ist der Begriff "Agilität“ allgegenwärtig. Wird das so bleiben?

Agilität – nur ein Trend oder das neue Normal?
Klebezettel sind leicht zu verschieben und neu anzuordnen. Dies ermöglicht es Teams zum Beispiel, ihre Arbeitsabläufe schnell anzupassen und auf sich ändernde Anforderungen oder Prioritäten zu reagieren. (Berk)

"Agilität ist doch nur ein Trend. In 10 Jahren spricht da niemand mehr drüber." Mit diesen Worten wurde ich von einem ehemaligen Kollegen konfrontiert. Ich finde es sehr lohnend, sich genauer mit dieser Aussage zu beschäftigen. Denn meiner Erfahrung nach ist "Agilität" ein Wort, zu dem viele Menschen sehr unterschiedliche Wissensstände, Assoziationen und Erfahrungen haben. Als allererstes interessiert mich daher, inwiefern Sie bereits mit Agilität in Berührung gekommen sind. Beantworten Sie die Frage auch gerne über diesen Link.

Was ist Agilität überhaupt?

Spoiler: Wenn Sie ein Kanban-Board mit Klebezetteln nutzen, sind Sie nicht automatisch agil. Aber der Reihe nach. Die Agilität als Arbeitsmethode hat ihre Wurzeln im Bereich der Softwareentwicklung. Sie entstand in den 1990er Jahren als Reaktion auf die als zu bürokratisch und schwerfällig empfundenen traditionellen Entwicklungsmodelle, wie beispielsweise das Wasserfallmodell. Stellen Sie sich ein Softwareprojekt wie die Erstellung eines Webshops eines großen Handelsunternehmens vor, in dem am Anfang alle Anforderungen des Produktes klar definiert und dann nach einem festen Plan abgearbeitet werden. Was gibt es alles an Innovationen und Entwicklungen während der Projektlaufzeit? Würde das Produkt drei Jahre nach einem festen Plan abgearbeitet, wäre das Produkt bei der Übergabe an den Kunde völlig veraltet.

Die Zeit der Planbarkeit ist vorbei. Um neue Entwicklungen einzubeziehen, muss der Plan durch ständiges Planen ersetzt werden. Agilität ist eine solche flexiblere und kundenorientierte Herangehensweise und wurde in den folgenden Jahren auch in anderen Branchen und für unterschiedliche Arten von Projekten adaptiert, um eine schnellere Anpassung an Veränderungen und eine bessere Zusammenarbeit im Team zu ermöglichen. Sie arbeitet mit einer Produktvision und "Fahren auf Sicht": Basierend auf den laufenden Beobachtungen und Erkenntnissen werden die Planungen und Arbeiten ständig angepasst. Der Kunde wird dabei eingebunden, damit das Produkt stets den Erwartungen entspricht. In der Softwarebranche werden mit “Scrum” Produkte in Zyklen von 2-3 Wochen entwickelt. Nach einem Zyklus wird das entwickelte Teilprodukt mit dem Kunden besprochen und verbleibende Arbeitsaufgaben können neu priorisiert werden. Dies fordert also nicht nur eine andere Vorgehensweise und andere Arten der Zusammenarbeit, sondern meistens auch neue Strukturen und Werte im Unternehmen.

Agile Werte

Tatsächlich sind wir als Gesellschaft in einem Entwicklungssprung. Von der industriellen Gesellschaft in eine Wissensgesellschaft. Wir sind Meister darin, komplizierte Maschinen zu bauen, jedes Bauteil zu optimieren und alle Parameter zu verstehen – das haben wir im industriellen Zeitalter perfektioniert. Doch eine stark vernetzte Gesellschaft wie sie durch das Internet entstanden ist, funktioniert anders. Eben wie ein Netzwerk. In einem Netzwerk "ein Zahnrad aus dem System" zu entfernen ist nicht reversibel, wie zuvor beim Bau von Autos, sondern verändert das Netzwerk, wie das Entfernen einer Tierart aus der Fauna ungeahnte Folgen für das Ökosystem hat. Wir wissen dann nicht, wie das Netzwerk auf die Veränderung reagiert, da die Zusammenhänge komplex sind.  In solchen Fällen müssen wir stetig messen, welche Auswirkungen unsere Tat hatte und dann nachsteuern. Feedback und Iterationsschleifen, ständiges neu Planen und Anpassen – das alles wird zur neuen Normalität. Eine Fehlerkultur ist von großer Bedeutung – wenn auch natürlich nicht in den qualitätsgesicherten Produktionsprozessen. (Schnelle, günstige) Prototypen erstellen, ohne Sorge, etwas falsch zu machen, Erfahrungen daraus ziehen und in die nächste Iteration einbeziehen.

Wer genauer erfahren möchte, wie Agiles Projektmanagement funktioniert und was dieses von dem Klassischen „Wasserfall“-Ansatz unterscheidet, kann sich z.B. unter hier weiter informieren.

Weil Agilität nicht nur eine komplett andere Herangehensweise ist, sondern auch die dahinterstehenden Werte so diametral denen entgegenstehen, die in klassischen, hierarchischen Organisationen gelebt werden und weil sich damit auch Machtverhältnisse (insbesondere für Führungskräfte) ändern, kann die Einführung von Agilität sehr herausfordernd und problematisch sein und zu Frust führen und damit zu Ablehnung von Agilität. Wenn der erste Ansatz gescheitert ist, wird manchmal noch ein zweiter Versuch gestartet unter anderem Namen, vielleicht auch noch ein Dritter. Ich verstehe daher den Frust, ich verstehe auch, wenn man denkt, dass nur die nächste Kuh durchs Dorf getrieben wird. Auf der anderen Seite weiß ich auch, dass klassische Ansätze noch immer eine immense Bedeutung haben.

Mein Fazit ist daher: Agilität ist eine Antwort auf die Komplexität und Geschwindigkeit der heutigen Zeit. Auch wenn das Wort "Agilität" verschwinden sollte – die Komplexität und Geschwindigkeit wird sogar noch zunehmen. Dafür brauchen wir Lösungen, auch in der Art wie wir zusammenarbeiten. Das gilt unabhängig davon, wie wir es nennen. Daher überlasse ich Ihnen, ob Sie Agilität einen Trend nennen. Benötigt wird sie – allerdings nicht für alles.

Es ist wichtig, beides zu kennen und zu wissen, wann ich was nutze. Klassische Herangehensweisen bleiben in Bereichen wertvoll, wo nicht ständige Änderungen zu erwarten sind bzw. sich bekannte Vorgehensweisen wiederholen, wie z.B. im Hausbau. Agilität eignet sich dort, wo Sie Neuland betreten oder wenn Sie mit ständigen Änderungen rechnen – wird also zum Beispiel genutzt, um auf Marktveränderungen schnell reagieren zu können. Aber wenn Sie komplexe Probleme mit klassischen Herangehensweisen bearbeiten oder Agilität nutzen, wo sie nicht gebraucht wird, verschwenden Sie höchstwahrscheinlich sehr viele Ressourcen.

Wenn Sie Agilität nutzen, dann bitte alles zusammen anfassen: Struktur, Strategie, Prozesse, Arbeitskultur und Projektmanagement. Oder seien Sie sich jedenfalls sicher, dass Sie verstehen, warum sie Klebezettel nutzen, wenn Sie es tun.

Dr. Thomas Greve

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Der promovierte Physiker Dr. Thomas Greve verantwortet seit September 2023 das Innovationsmanagement und Forschungsförderung im Bereich Wasserstoffwirtschaft. Im EEHH-Team sorgt er für frischen Wind mit agilen Methoden und neuen Ansätzen der Kollaboration.

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